Dienstag, 23. Februar 2016

Wolf Haas, Fuchs

Wie ich meinen Preis in Kassel abgeholt habe.
Tagsüber gehe mit meiner Mutter in Kassel spazieren, aber wir sind froh, dass es regnet und wir aufhören können, in Kassel spazieren zu gehen.
Der berühmte Herkules im UNESCO Weltkulturerbe Bergpark Wilhelmshöhe ist gänzlich im Nebel. Jetzt habe ich schon Fotos vom Eiffelturm im Nebel und vom Riesenrad in London. Überlege, eine Reihe daraus zu machen.


Wir gehen in das Fridericianum moderne Kunst ansehen. Diese Art Art, bei der Leute sagen:
Das kann ich auch, alles blau anmalen oder an die Decke hängen oder so alte Fernseher laufen lassen,
was soll das? Also mir gefällt das nicht, mich berührt das nicht, was ist denn daran Kunst?




Ich war zweimal bei einer documenta, einmal hat es mir gefallen und beim zweiten Mal habe ich aufgehört, mich mit moderner Kunst zu beschäftigen. Inzwischen geht es wieder.
Im Fridericianum gibt eine kostenlose Führung. Eine Annie-Lennox-Frau mit wehendem Mantel führt uns durch die englischsprachige Ausstellung „Images“.
Die Annie-Lennox-Frau sagt, dass digital natives das alles besser verstehen. Wir nicken alle. Wir sind ja alle keine digital natives, sagt sie und wir nicken alle. Dann erst fragt ein alter Mann, was das ist ein „digital native“.


Die Fenster sind verhängt und in der Ausstellung Nacht. So könnte Ausstellungen auch unterschieden werden, welche bei denen die Fenster verhängt sind (Video und Lichtinstallationen) und welche, bei denen das Tageslicht ins Museum darf. 
Der Katalog begrüßt mit den Worten: „Als originärer Raum der Kunst erweitert sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mittels neuer Technologien der imaginäre Raum. Im permanenten Wechselspiel durchdringt und formt das Imaginäre die Realität. Mehr und mehr gewinnt das imaginäre Potenzial des Bildes an Bedeutung.“
Ja.

I Do Not Own Snow White“ von Pierre Huyghe thematisiert die Besitzansprüche an (Vorstellungs-) Bilder. Kann sich ein Einzelner eine Märchenfigur aneignen oder ist sie kollektives Gut? Märchen verbreiteten sich über mündliches Weitererzählen, veränderten sich von Niederschrift zu Niederschrift und gestalten sich in der Imagination des Einzelnen. Während die prominenteste Darstellung Schneewittchens in der Zeichentrickadaption von Disney einem Copyright unterliegt, ist die individuelle Imagination der Märchenfigur frei."

Und weil das schön ist, dass jeder Gedanke an Schneewittchen frei ist, stelle ich mir jetzt ein ganz verrücktes Schneewittchen vor und ich verrate nicht, wie es aussieht, weil es mir gehört.

Mir gefällt das Projekt Annlee. Sie ist ein Nebencharakter aus einem Katalog aus einer japanischen Designkatalog, 2000 kauften Philippe Parreno und Pierre Huyghe die Rechte an Annlee und lizensierten sie unter „Copyleft, einer Lizenz, die es erlaubt, ohne rechtliche Einschränkungen kollektiv oder individuell an einem Bild zu arbeiten, solange das Ergebnis ebenfalls unter Copyleft lizensiert wird.“
Annlee redet darüber, wie es ihr damit geht, erfunden zu sein und dass sie sagen muss, was sie sagen soll. Sie hat keine Augen und spricht darüber, was sie sieht. Selbst wenn sie Augen hätte, könnte sie nicht sehen, selbst wenn sie echt wäre könnte sie aus diesem Film heraus nichts sehen.
Sie existiert nicht und trotzdem kann ich sofort verstehen und nachfühlen, was sie sagt.

Im nächsten Raum wird noch mehr gemetaebnet. 1774 hat ein Mensch, der schweizer Uhrmacher Pierre Jaquet-Droz einen Androiden gebaut, der 40 Zeichen schreiben kann. Ein anderer Mensch, Phillipe Parreno hat über 200 Jahre später diesen Androiden programmiert zu schreiben: „What do you believe your eyes or my wo“ dann sind die Zeichen verbraucht und er beginnt von vorne. Das alles ist zu sehen auf einer Instalationswand mit LED-Leuchten. Der Mensch, der Androide, der zweite Mensch, der Film, der Zuschauer, der gezwungen wird, das Kunstwerk zu vollenden, in dem er denkt „Words“ Und natürlich auch, indem er dem Androiden zusieht, denn ohne Seher keine Kunst, oder?

Hier noch ein Foto, der nicht digital natives, beim ehrwürdigen Verwirrtsein.


Nachmittags geht es zur Preisverleihung. Fast hätte ich vergessen das Rouge zu verschmieren, aber wenn man schon mal gefördert wird, weil man komisch ist, könnte man ja auch mal so richtig komisch sein.



Die Preisverleihung beginnt um 16:30 mit einem Umtrunk beim Oberbürgermeister. Schade, dass man nicht alle nach ihrem Amt benennen kann. Herr Oberbürgermeister, Herr Juryvorsitzender, Herr Mann von der Bank, der den Scheck bringt und natürlich Herr Hauptpreisträger (denn ich bin ja die Förderpreisträgerin). Herr Hauptpreisträgers Name muss ich mir nicht merken, denn kenne ich schon lange. Na klar. Wolf Haas und für immer werden wir in diesem Jahrgang nacheinander gelistet sein: Wolf Haas, Fuchs. So schön.
Im Büro des Herrn Oberbürgermeister ist ein bonfortionöser Schreibtisch und ein riesiges Beuysbild. Hätte Beuys das gefallen oder hätte er gern Filz und Fett im Raum verteilt?


Foto, kuck mal hier, Foto, kuck mal da, im Vordergrund Ulla Rowohlt, die Witwe des Harry Rowohlt, der früher das Energiezentrum des Preises war.


Man fragt mich so lange, ob ich aufgeregt bin, bis ich aufgeregt bin.
Die Veranstaltung selbst ist feierlich, wie es sich gehört. Reden werden gehalten, ein Chor geht auf und ab. Ich sitze zwischen der Justizministerin von Hessen und meiner Mutter. Die Justizministerin hat mir vor der Veranstaltung etwas erklärt, nach dem ich auch gefragt habe. Sie war mal Ministerin für die schönen Künste und ich wollte wissen, wie Ministerämter vergeben werden. Ihre Antwort war so, dass ich überlegte, meine Frage zurück zu ziehen. Eigentlich sollte ich den Mumm haben, den Menschen zu sagen, dass ich die Hälfte ihrer Wörter nicht verstehe. Ungefähr hat sie gesagt: „Der Wort-kenn-ich-nicht hat die Wort-kenn-ich-nicht und die Wort-kenn-ich-nicht, um Minister innerhalb Wort-kenn-ich-nicht zu Wort-kenn-ich-aber-weiß-nicht-genau-was-es-heißt nicht und nach jeder Wahl in einem Gremium Wort-kenn-ich-nicht.“
Aber sonst war sie ein freundlicher Mensch.

Ich habe eine Videoaufnahme, wie Wolf Haas einem sehr bunt angezogenem Chor zuhört, der Textstellen aus seinen Büchern singt.
Ich habe ihn gefragt, ob ich das Video veröffentlichen darf. Darf ich nicht.
Also, kann ich euch nur sagen. Das Lied war. Und Wolf Haas hat gekuckt.


Stattdessen ein Foto vom Schatten von Wolf Haas.
In dem ich für immer bin.


Wolf Haas trägt sich ins Goldene Buch der Stadt Kassel ein.

Meine Rede ist kurz. Ich danke, wie es sich gehört, meiner Mutter, wenn ich sie schon mal dabei habe, für - natürlich - Mutterwitz.

(Foto: Johanna Leistner, Rechte bei ihr und der Stiftung Brückner-Kühner)

Ich lese „interessant einkaufen“ und alle danach so: „Awwww“ und wollen mein Buch kaufen.
Der Büchertisch hat nichts von Voland&Quist da, also nicht meine Kurzgeschichtenbände. Die Kasselaner und Kasselanerinnen kommen zu mir gekullert und wollen das Buch, aus dem ich las. In Zeitschleife immer wieder das selbe Gespräch. Sie müssen meine Romane kaufen und in die schreibe ich ihnen als Widmung, wie meine Kurzgeschichtenbände heißen. Trotzdem ist es ärgerlich. Ich stelle mir vor, Frau Blau besucht die Preisträgerlesung. Dort ist diese junge Frau (das bin ich, denn für alle über 50 bin ich die junge Frau) und die sagt gute Worte und liest eine nette Geschichte, in der es darum geht, dass man nett sein soll. Dann gibt’s das Buch nicht und Frau Blau kauft die „Titanic und Herr Berg“ und liest zu Hause verstört die erste Seite. Ich war 25, als ich das Buch schrieb. Es ist stark pornografisch. Frau Blau tut mir irgendwie leid.

Ich habe ein einziges Exemplar von „Kaum macht man mal was falsch, ist das auch wieder nicht richtig“ in meinem Rucksack im Oberbürgermeisterbüro und das habe ich einer jungen Frau versprochen. Sie wartet, bis ich alles signiert habe. Der Oberbürgermeister muss mir sein Büro aufschließen und das tut er gern, weil er die schwere Kette ablegen will. Ich darf sie mal anfassen. Ganz schön schwer, fürwahr.

(Foto: Johanna Leistner, Rechte bei ihr und der Stiftung Brückner-Kühner)

Beim Essen sagt Ulla Rowohlt, dass sie mag, was ich tu und dass Harry es auch gemocht hätte.
Ich kenne einige Förderpreisträger. Von denen habe ich gehört, dass Harry Rowohlt stets betont hat, gegen sie gewesen zu sein. Es gibt auch das bekannte Zitat, er fahre nach Kassel, um sich dort überstimmen zu lassen. Nun ist es die Gnade des späten Förderpreises, dass ich nicht erfahren werde, ob Harry Rowohlt gegen mich gestimmt hätte.


Das hier ist meine Urkunde. Ich bin froh und eigentlich hat alles einen Erkenntnisgewinn.