Wie
ich meinen Preis in Kassel abgeholt habe.
Tagsüber
gehe mit meiner Mutter in Kassel spazieren, aber wir sind froh, dass
es regnet und wir aufhören können, in Kassel spazieren zu gehen.
Der
berühmte Herkules im UNESCO Weltkulturerbe Bergpark Wilhelmshöhe
ist gänzlich im Nebel. Jetzt habe ich schon Fotos vom Eiffelturm im
Nebel und vom Riesenrad in London. Überlege, eine Reihe daraus zu
machen.
Wir
gehen in das Fridericianum moderne Kunst ansehen. Diese Art Art, bei
der Leute sagen:
Das
kann ich auch, alles blau anmalen oder an die Decke hängen oder so
alte Fernseher laufen lassen,
was
soll das? Also mir gefällt das nicht, mich berührt das nicht, was
ist denn daran Kunst?
Ich
war zweimal bei einer documenta, einmal hat es mir gefallen und beim
zweiten Mal habe ich aufgehört, mich mit moderner Kunst zu
beschäftigen. Inzwischen geht es wieder.
Im
Fridericianum gibt eine kostenlose Führung. Eine Annie-Lennox-Frau
mit wehendem Mantel führt uns durch die englischsprachige
Ausstellung „Images“.
Die
Annie-Lennox-Frau sagt, dass digital natives das alles besser
verstehen. Wir nicken alle. Wir sind ja alle keine digital natives,
sagt sie und wir nicken alle. Dann erst fragt ein alter Mann, was das
ist ein „digital native“.
Die
Fenster sind verhängt und in der Ausstellung Nacht. So könnte
Ausstellungen auch unterschieden werden, welche bei denen die Fenster
verhängt sind (Video und Lichtinstallationen) und welche, bei denen
das Tageslicht ins Museum darf.
Der
Katalog begrüßt mit den Worten: „Als originärer Raum der Kunst
erweitert sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mittels neuer
Technologien der imaginäre Raum. Im permanenten Wechselspiel
durchdringt und formt das Imaginäre die Realität. Mehr und mehr
gewinnt das imaginäre Potenzial des Bildes an Bedeutung.“
Ja.
„I
Do Not Own Snow White“ von Pierre Huyghe thematisiert die
Besitzansprüche an (Vorstellungs-) Bilder. Kann sich ein Einzelner
eine Märchenfigur aneignen oder ist sie kollektives Gut? Märchen
verbreiteten sich über mündliches Weitererzählen, veränderten
sich von Niederschrift zu Niederschrift und gestalten sich in der
Imagination des Einzelnen. Während die prominenteste Darstellung
Schneewittchens in der Zeichentrickadaption von Disney einem
Copyright unterliegt, ist die individuelle Imagination der
Märchenfigur frei."
Und
weil das schön ist, dass jeder Gedanke an Schneewittchen frei ist,
stelle ich mir jetzt ein ganz verrücktes Schneewittchen vor und ich
verrate nicht, wie es aussieht, weil es mir gehört.
Mir
gefällt das Projekt Annlee. Sie ist ein Nebencharakter aus einem
Katalog aus einer japanischen Designkatalog, 2000 kauften Philippe
Parreno und Pierre Huyghe die Rechte an Annlee und lizensierten sie
unter „Copyleft, einer Lizenz, die es erlaubt, ohne rechtliche
Einschränkungen kollektiv oder individuell an einem Bild zu
arbeiten, solange das Ergebnis ebenfalls unter Copyleft lizensiert
wird.“
Annlee
redet darüber, wie es ihr damit geht, erfunden zu sein und dass sie
sagen muss, was sie sagen soll. Sie hat keine Augen und spricht
darüber, was sie sieht. Selbst wenn sie Augen hätte, könnte sie
nicht sehen, selbst wenn sie echt wäre könnte sie aus diesem Film
heraus nichts sehen.
Sie
existiert nicht und trotzdem kann ich sofort verstehen und
nachfühlen, was sie sagt.
Im
nächsten Raum wird noch mehr gemetaebnet. 1774 hat ein Mensch, der
schweizer Uhrmacher Pierre Jaquet-Droz einen Androiden gebaut, der 40
Zeichen schreiben kann. Ein anderer Mensch, Phillipe Parreno hat über
200 Jahre später diesen Androiden programmiert zu schreiben: „What
do you believe
your eyes or my wo“ dann sind die Zeichen verbraucht und er beginnt
von vorne. Das alles ist zu sehen auf einer Instalationswand mit LED-Leuchten. Der Mensch, der Androide, der zweite Mensch, der Film, der
Zuschauer, der gezwungen wird, das Kunstwerk zu vollenden, in dem er
denkt „Words“ Und natürlich auch, indem er dem Androiden
zusieht, denn ohne Seher keine Kunst, oder?
Hier
noch ein Foto, der nicht digital natives, beim ehrwürdigen Verwirrtsein.
Nachmittags
geht es zur Preisverleihung. Fast hätte ich vergessen das Rouge zu verschmieren, aber wenn man schon mal gefördert wird, weil man
komisch ist, könnte man ja auch mal so richtig komisch sein.
Die
Preisverleihung beginnt um 16:30 mit einem Umtrunk beim Oberbürgermeister.
Schade, dass man nicht alle nach ihrem Amt
benennen kann. Herr Oberbürgermeister, Herr Juryvorsitzender, Herr
Mann von der Bank, der den Scheck bringt und natürlich Herr
Hauptpreisträger (denn ich bin ja die Förderpreisträgerin). Herr
Hauptpreisträgers Name muss ich mir nicht merken, denn kenne ich
schon lange. Na klar. Wolf Haas und für immer werden wir in diesem
Jahrgang nacheinander gelistet sein: Wolf Haas, Fuchs. So schön.
Im
Büro des Herrn Oberbürgermeister ist ein bonfortionöser
Schreibtisch und ein riesiges Beuysbild. Hätte Beuys das gefallen
oder hätte er gern Filz und Fett im Raum verteilt?
Foto,
kuck mal hier, Foto, kuck mal da, im Vordergrund Ulla Rowohlt, die
Witwe des Harry Rowohlt, der früher das Energiezentrum des Preises
war.
Man
fragt mich so lange, ob ich aufgeregt bin, bis ich aufgeregt bin.
Die
Veranstaltung selbst ist feierlich, wie es sich gehört. Reden werden
gehalten, ein Chor geht auf und ab. Ich sitze zwischen der
Justizministerin von Hessen und meiner Mutter. Die Justizministerin
hat mir vor der Veranstaltung etwas erklärt, nach dem ich auch
gefragt habe. Sie war mal Ministerin für die schönen Künste und
ich wollte wissen, wie Ministerämter vergeben werden. Ihre Antwort
war so, dass ich überlegte, meine Frage
zurück zu ziehen. Eigentlich sollte ich den Mumm haben, den Menschen zu
sagen, dass ich die Hälfte ihrer Wörter nicht verstehe. Ungefähr
hat sie gesagt: „Der Wort-kenn-ich-nicht hat die
Wort-kenn-ich-nicht und die Wort-kenn-ich-nicht, um Minister
innerhalb Wort-kenn-ich-nicht zu
Wort-kenn-ich-aber-weiß-nicht-genau-was-es-heißt nicht und nach
jeder Wahl in einem Gremium Wort-kenn-ich-nicht.“
Aber sonst
war sie ein freundlicher Mensch.
Ich
habe eine Videoaufnahme, wie Wolf Haas einem sehr bunt angezogenem
Chor zuhört, der Textstellen aus seinen Büchern singt.
Ich
habe ihn gefragt, ob ich das Video veröffentlichen darf. Darf ich
nicht.
Also,
kann ich euch nur sagen. Das Lied war. Und Wolf Haas hat gekuckt.
Stattdessen
ein Foto vom Schatten von Wolf Haas.
In
dem ich für immer bin.
Wolf
Haas trägt sich ins Goldene Buch der Stadt Kassel ein.
Meine
Rede ist kurz. Ich danke, wie es sich gehört, meiner Mutter, wenn ich
sie schon mal dabei habe, für - natürlich - Mutterwitz.
(Foto: Johanna Leistner, Rechte bei ihr und der Stiftung Brückner-Kühner)
(Foto: Johanna Leistner, Rechte bei ihr und der Stiftung Brückner-Kühner)
Ich
lese „interessant einkaufen“ und alle danach so: „Awwww“ und
wollen mein Buch kaufen.
Der
Büchertisch hat nichts von Voland&Quist da, also nicht meine
Kurzgeschichtenbände. Die Kasselaner und Kasselanerinnen kommen zu mir gekullert und
wollen das Buch, aus dem ich las. In Zeitschleife immer wieder das
selbe Gespräch. Sie müssen meine Romane kaufen und in die schreibe
ich ihnen als Widmung, wie meine Kurzgeschichtenbände heißen.
Trotzdem ist es ärgerlich. Ich stelle mir vor, Frau Blau besucht die
Preisträgerlesung. Dort ist diese junge Frau (das bin ich, denn für
alle über 50 bin ich die junge Frau) und die sagt gute Worte und
liest eine nette Geschichte, in der es darum geht, dass man nett sein
soll. Dann gibt’s das Buch nicht und Frau Blau kauft die „Titanic und
Herr Berg“ und liest zu Hause verstört die erste Seite. Ich war 25,
als ich das Buch schrieb. Es ist stark pornografisch. Frau Blau tut
mir irgendwie leid.
Ich
habe ein einziges Exemplar von „Kaum macht man mal was falsch, ist das auch
wieder nicht richtig“ in meinem Rucksack im Oberbürgermeisterbüro und
das habe ich einer jungen Frau versprochen. Sie wartet, bis ich alles signiert habe. Der Oberbürgermeister muss mir sein Büro
aufschließen und das tut er gern, weil er die schwere Kette ablegen
will. Ich darf sie mal anfassen. Ganz schön schwer, fürwahr.
(Foto: Johanna Leistner, Rechte bei ihr und der Stiftung Brückner-Kühner)
(Foto: Johanna Leistner, Rechte bei ihr und der Stiftung Brückner-Kühner)
Beim
Essen sagt Ulla Rowohlt, dass sie mag, was ich tu und dass Harry es
auch gemocht hätte.
Ich
kenne einige Förderpreisträger. Von denen habe ich gehört, dass
Harry Rowohlt stets betont hat, gegen sie gewesen zu sein. Es gibt
auch das bekannte Zitat, er fahre nach Kassel, um sich dort
überstimmen zu lassen. Nun ist es die Gnade des späten
Förderpreises, dass ich nicht erfahren werde, ob Harry Rowohlt gegen
mich gestimmt hätte.
Das
hier ist meine Urkunde. Ich bin
froh und eigentlich hat alles einen Erkenntnisgewinn.