Dienstag, 22. September 2015

Die kleine Erzgebirgslesereise

Die kleine Erzgebirgslesereise:





Ich hab der Booking-Agentur in den Ohren gelegen, dass ich unbedingt mit der „Mädchenmeute“ im Erzgebirge lesen wolle, denn da gehöre das Buch hin. Das müsste die Menschen da doch interessieren. Das Buch müsste doch auf diesen Erzgebirgsthementischen liegen, wo auch „Schwarzenberg“ von Stefan Heym liegt, denn "Mädchenmeute" ist ein Erzgebirgsabenteuerbuch.
Von allen angeschriebenen Buchhandlungen haben sich zwei zurückgemeldet. Vorher habe ich noch eine Lesung in Dresden und so ist es doch fast eine Tour.
Nach Dresden fahre ich mit einem alten ungarischen Zug, in dem eine alte Karte hängt, auf der das Land unter Ungarn Jugoszlavia heißt.
Ich denke an die Grenzen, die geöffnet werden und sich wieder schließen, an die Länder, die zerfallen und daran, dass ich in einem Zug sitze, der von Berlin nach Budapest fährt, eine Stadt, in der gerade etliche Menschen darauf hoffen, in einen Zug wie diesen steigen zu dürfen.



Von Dresden nach Schneeberg fahre ich über Zwickau. Im Bus das schlimme Sitzmuster. Und so viel davon, weil ich allein im Bus bin.


























Als die Anzeige im Bus umspringt und das eine Wort auftaucht, auf das ich die ganze Zeit gewartet habe, drücke ich sofort, steige sofort aus, der Bus fährt sofort weg und ich realisiere sofort, dass ich zu früh gedrückt habe. Das ist nicht Schneeberg. Das ist ein einzelner Gasthof auf einem Berg. Möglicherweise wäre es die nächste Station gewesen und der Busfahrer hat drei Sekunden zu früh die Anzeige wechseln lassen. Ich hoffe, dass es so ist, denn dann wäre die Stadt im Tal Schneeberg, aber warum heißt sie dann nicht Schneetal?
Eine Station zu früh bedeutet bei Überlandbussen eine halbe Stunde zu Fuß.
Der Himmel ist schön. Ein Traktor tuckert.




























Ich laufe ein Stück von der Straße entfernt einen holperigen Weg. Eine schwarze Katze pirscht sich an ein Gebüsch an. Ich pirsche mich an die Katze an. Als sie mich sieht, starrt sie mich total entsetzt an. Ich will sie fotografieren. Sie legt sich ganz tief ins Gras. Als ich weitergehe, springt sie auf, rennt los, vor einem LKW hakenschlagend über die Straße. Ich rufe: "Nein, halt, NICHT!" Die Katze ist über die Straße, der LKW weg. Ich stehe verloren herum.



























Dann ein Straßenschild. Und Häuser. Und noch ein Schild. Ich wander also auf der alten Silberstraße.
Das und der Himmel und die nicht überfahrene Katze stimmen mich sehr froh.



Schneeberg ist klein. Ich denke die ganze Zeit: "Da kommt doch keiner heute abend. Wer soll denn da kommen? Da kommt keiner!" Dann begegne ich mir selbst in einem Glaskasten am Wegesrand. Eintritt frei. Vielleicht kommt doch jemand.





























Schnitzkunst aus dem Erzgebirge:



Wortschnitzkunst aus dem Scherzgebirge:


























 Das ist der Lesungsort von außen ...
... das von innen.













Und das ist der sehr erzgebirgisch anmutende Techniker. ("Nu, schbleib donn no a bisschen und donn musch los. Aue spielt.")


























Die 12 Menschen, die zur Lesung kommen, vermuten alle, dass es so leer ist, weil der erste FC Erzgebirge Aue spielt. Ich habe nicht den Eindruck, dass eine Lesung und ein Fußballspiel große Schnittmengen von Publikum teilen.
Nee, schlecht war das nicht, sagt die alte Frau nach der Lesung zu der anderen alten Frau. Schlecht war das nicht. Sie kommt zu mir und hält sehr lange meine Hand. Sie sagt: "Sie haben eine sehr lebendige Sprache und einen sehr lebendigen Vortrag. Sie sind bestimmt noch sehr jung."
Danach ein langes Gespräch mit der Buchhändlerin. Das traurigste Zitat der Lesereise: "Die Kinder lesen natürlich nicht, aber woher sollen sie es auch haben, wenn bei den Eltern nicht mal die BILD auf dem Tisch liegt." Auch nicht schlecht das: "Die Mädchen lesen ja noch ein bisschen, aber die Jungs gehen zum Fußball oder zum schnitzen."

Später führe ich in der einzig offenen Kneipe ein Gespräch über Flüchlinge. So offen ist die Kneipe gar nicht. Freital ist nicht weit weg, am Rande von Schneeberg ein Erstauffanglager, in dem tausende Menschen darauf warten, woanders hin zu kommen.
Klar, dass man nicht menschenfeindlich ist.
Dann viel „aber“
- es können doch nicht alle her kommen
- die müssen sich integrieren
- die können nicht der Umgebung ihre Werte aufdrücken.
- man hätten das Volk vorher fragen müssen.
- man müsste nur denen helfen, die es wirklich brauchen
Sachleistungen, dann freuen die sich doch, wenn die nichts haben.
Wenn man denen Geld gibt, kommen ja noch mehr.
Sachleistungen schreckt die anderen ab.
Ich bin die Frau von anderswo, behaupte, dass nichts schlimmes passiert, wenn nicht alle so sind wie man selbst. Es passiert nichts, glaube mir. Ich sage, dass ich mit Absicht nicht in den Osten der Stadt gezogen bin, weil es mir einfach zu wenig Ausländer waren, ist so, stimmt so. Ich würde bis heute nicht ohne Türken und Araber in meiner Nähe leben wollen. Von den ganz praktischen Begleiterscheinungen mal abgesehen, wie zum Beispiel: Sie sind sehr nette Taxifahrer und Taxifahrerinnen, mein Kind lernt ein bisschen andere Sprachen in der Kita, andere Werte, viele Götter, anderes Essen. Außerdem kann ich nachts Kohlrabi kaufen und ich will nachts Kohlrabi kaufen. Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht.
Und sehr schlechte mit Deutschen. Ist so. Was jetzt? Soll ich deutschenfeindlich sein?
Der Mann in der Kneipe sagt selbst, selbst sagt er das über sich und die anderen sagt er das, wortwörtlich: "Darfst nicht vergessen, wir sind ein Bergvolk. Da kannst du nicht einfach sagen: Hier, das sind die Neuen."

Im Hotelzimmer hängt das Bild schief. Nicht mal die Bildzeitung. Gute Nacht.


19.09.
Im Frühstücksraum. Am Nachbartisch geht es darum, welche Nadelbäume schlimmere Nadeln in den Garten werfen und wann die Nadelbäume damit fertig sind, die Nadeln in den Garten zu werfen.
Bei den zwei älteren Paaren treten die Gesprächsstrukturen klar zutage. Ich habe meine helle Freude. Hier meine Beobachtungen:
Eigentlich wollen die Frauen sich unterhalten. Und das in einem sehr schnellen Singsang, die eine Frau singsangt den Text, die andere macht Zuhörgeräusche (hmhmhmhmhmhmhm, haja, jajajajajaja). Manchmal sind die Zuhörgeräusche lauter und präsenter als die Redegeräusche. Man verliert den Überblick, wer redet. Die Männer brummeln immer so von der Seite rein. Sie brummeln langsamer und stören den schön eingespielten Rede- und Zuhörsingsang der Frauen. Etwas muss so oft gesagt werden, bis die Reaktion befriedigend ist. Die Frauen befriedigen sich gegenseitig perfekt. Jajajaja, hm. Alles im Gespräch wird gebraucht, um sich selbst daneben zu halten und zu vergleichen: Wir haben ja jetzt, ich mache das ja immer, also bei uns. Ein Wunder, dass sie nicht betonen, dass sie ja nicht nadeln.


Sätze an denen man merkt, dass man in einem kleinen Ort ist, in einem wirklich kleinen Ort.
1. Sie wollen also mit dem Taxi fahren? Dann ruf ich mal den Herrn Koch an. Das dauert aber ein bisschen.
2. Am Wochenende fahren, glaube ich, keine Busse.
3. Das ist aber Unterschlema. Das hat keinen Bahnhof. Nur Oberschlema. Nee, da fährt kein Bus hin.
4. Eine Apotheke? Heute? Es ist doch Sonnabend.
5. Sie können dahin laufen, dürfen sich bloss nicht verlaufen. Da treffen sie niemand, den sie nach dem Weg fragen können.
6. Vegetarisch? Sie können das Fleisch ja aus der Soße rausnehmen.
7. Ich weiß nicht, ob wir jetzt noch Kaffee haben.
8. Im Nachbarort ist Blasorchesterfestival. Deshalb sind wir auch ausgebucht. 



Ich schaue mich noch ein bisschen in Schneeberg um.








Tschüß, Schneeberg!

Im Bus sitzen viele junge Männer in unterschiedlichen Farben. Da ich mich neben irgendeinen setzen muss, setze ich mich neben den Erstbesten. Ich will nicht darüber nachdenken. Wie schnell passieren beim Nachdenken dumme Fehler. Setze ich mich neben jemand, den ich für europäischer halte als einen anderen, für christlicher und wäre das besser? Ich mag nicht neben einem Macho setzen, aber sieht man das? Lächeln die nicht sogar mehr als andere Männer? Oder sind das die, die so breitbeinig sitzen, selbst wenn man sich neben sie setzt. Ich liebäugle immer wieder mit folgender Versuchsanordnung: Ich setze mich sehr breitbeinig in in öffentliches Verkehrsmittel, warte, bis ein Mann sich neben mich setzt und bleibe so breitbeinig sitzen. Dann schaue ich zu ihm rüber und sage: "Sorry, Tampon voll."
Ich setze mich also einfach hin. Auf den ersten Platz. Neben einen junger Schwarzen. Auf einmal sehe ich überall das Wort schwarz. Schwarzfahrer müssen zahlen. Wir fahren über Schwarzenberg.
Irgendwann versucht er mich etwas zu fragen. Ich erkenne nur das Wort Schneeberg.
Er fragt: Irgendwas, irgendwas Schneeberg?
Ich antworte und für ihn hört es sich so an: Irgendwas Schneeberg. Irgendwas Schneeberg irgendwas.
Das machen wir eine Weile so, dann wiederholen wir es mit dem Wort Aue.
Wir lächeln uns an und steigen beide in Aue aus. Ich sage Tschüß, er nicht.
Ich habe einen Moment, der ich schwer beschreiben kann. Ich versuch es mal. Ich versuche, nicht in verschiedene Falle zu tappen.
Die erste Falle ist der Positiver Rassismus. Wir haben einen  Mensch, der versucht, Menschen nicht nach Äußerlichkeiten zu bewerten. Weil es Menschen gibt, die häufiger aufgrund ihrer offensichtlich dunkleren Hautfarbe wahrgenommen werden und eventuell auch bewertet, versucht der Mensch, der Menschen nicht nach Äußerlichkeiten beurteilt, extra nett zu sein zu Menschen, von denen er annimmt, dass sie häufiger nach Äußerlichkeiten bewertet werden.
Kommen wir zur schlimmeren Falle. Der Mensch erwartet dafür, dass er so toll offen und tolerant ist, irgendwie Dankbarkeit. Wenn der Mensch aber wirklich sagt, glaubt, lebt, dass man zu allen Menschen freundlich ist, dann tut er das aus Überzeugung und niemandem zu Liebe. Also gibt es an dieser Stelle keine Dankbarkeit. Und ich wollte auch keine Dankbarkeit, sondern einfach nur auch was nettes, aber auch an der Stelle wartet eine Falle, denn wenn die Freundlichkeit meine Weltanschauung ist, dann ist das eben meine. Ich praktiziere sie so oft wie ich es schaffe, aber ich kann andere nicht missionieren, weil missionieren scheiß aroganter Dreck ist.
In Berlin denke ich nie über sowas nach, aber im Erzgebirge möchte ich plötzlich unbedingt, dass Menschen, die nicht aussehen, als würden Sie in der dritten Generation mit ihren Familien hier leben, dass diese Menschen uns Deutsche für nett halten. Ich finde mich sehr lustig dabei. Genau, die von mir Angelächelten werden nach Hause gehen und sagen: "Heute war so eine nette Frau im Bus. Ich glaube, die Deutschen hier sind alle ganz famose Zeitgenossen. Ich werde sie jetzt auch häufiger mal anlächeln und dann wird alles gut."
Und dabei bin ich ja aus Berlin. Das kann ja niemand von außen sehen, so wie man gar nicht von außen sieht, wer wer ist und woher wer kommt. Nichts siehst du von außen. Und wenn ich hier im Erzgebirge so nett bin, und die von mir Angenettete denken, die Erzgebirgler wären nett, dann ist das alles voll der Quatsch. Obwohl ich ja in Karl-Marx-Stadt geboren bin und damit Sachse, die ja momentan einen viel zu schlechten Ruf haben. Ich sollte überall lächeln und sagen, dass ich aus Sachsen bin. So würde meine Nettigkeit zu einer missionarischen Nettigkeit verkommen.

Aue hat das hier zu bieten:


 


















Beim Besuch einer Drogerie, um Trockenobst zu erwerben, frage ich die Kassiererin, ob es ein gutes Kaffee in der Nähe.gäbe.
„Links, rechts“, sagt die Frau und macht komische Bewegungen mit ihrer Hand, irgendwas zwischen Hitlergruß und Segnung. „Über die Brücke. Dann links. Schönes Haus links. Außen braun, innen grün.“
Sie beugt sich verschwörerisch zu mir: „Und das beste ist...“
Und ich denke, spätestens jetzt werde ich erfahren, was für ein Mensch mir antwortet. Außen braun, innen grün.
„... da arbeiten nur Behinderte.“
„Oh, schön", sage ich.
Sie freut sich darüber so sehr. Ich weiß nicht recht.
„Also in der Küche, wo man sie nicht sieht. Nicht in der Bedienung.“
Ich versuche ein Geräusch zumachen, genauso unklar wie ihre Information. Dann gehe ich zu dem Café, außen braun, innen grün. Der Kaffee ist super.

Überlandbus von Aue nach Annaberg-Buchholz:



























Soviel Platz in diesem Land. Das Boot ist leer.

Die kleinen Ortschaften konnte ich so schnell nicht fotografieren. Aufgefallen sind mir die vielen verspielten Elemente in den Gärten und an den Straßen. Die mit Heu ausgestopften lebensgroßen Puppen, die auf Bänken sitzen, auf Baugerüsten stehen, auf Schaukeln schaukeln. Ist das so ein Erzgebirgsding? Soll das die Gegnd beleben, weil die Jugend wegzieht? Sollte man nicht ausgestopfte Jugendliche an die Bushaltestellen setzen?
Ich glaube, das ist so ein Deko-, Bastel oder Handwerksding im Erzgebirge, so wie das Klöppeln und Schnitzen.
Außerdem gab es zwei Orte, die voller Wimpel waren, Zäune, Dachfirste. Wirklich schön.

In Annaberg-Buchholz ist ein Oldtimertreffen.





























Ein öffentliches Internet finde ich nicht. Mir wird gesagt, dass schon einmal jemand danach gefragt hat.
Ich gehe in Erzgebirgsläden. Die Mädchenmeute fährt ja ins komplett ausgedachte Schwipptal. Es ist wirklich Quatsch, denn Schwipp heißt ja Schweben. Ein Tal ist das Gegenteil von Schwipp, vielleicht ein Schwupp.
Die im Buch beschriebenen Holzfiguren, Bergmann und Engel.
 
In der Touristeninfo frage ich nach dem Veranstaltungsort. Die Frau lächelt und sagt: "Sie lesen dort heute, oder?"
Der Ort an dem die Lesung stattfindet heißt „Neues Konsulat“. Es ist ein sehr cooler Ort. So sah das Schaufenster aus. Die Menschen blieben stehen, sagte "Oh" und "Ah" und "Zu der Lesung will ich nicht."

Drinnen sieht es so aus:
























Ich dachte wie in Schneeberg: „Da kommt doch keiner, da kommt doch keiner“. Buchhändler Jörg Knoblauch aus der Erzgebirgsbuchhandlung Knoblauch erzählte, dass in Anaberg-Buchholz an eben jenem Tag eine Filmpremiere stattfand, ein Film, der im Erzgebirge spielt.

Es begann zu regnen. Wir machten Feuer.


























Dann kommen wirklich Menschen und irgendiwe besonders nette mit denen man großartig schwatzen konnte. Es wird ein toller Abend.
















Die Menschen schaffen es nicht, alle Bücher zu kaufen. Der Vertreter von Rowohlt hat es aber auch sehr gut gemeint.






Nach der Veranstaltung bekomme ich von der Erzgebirgs-Buchhandlung Knoblauch einen Schaukelbücherwurm geschenkt. Und es wird ein Polaroid von mir gemacht, weil das hier Tradition ist.
Das "Neue Konsulat" ist wirklich ein toller Ort mit einem tollen Team.

Das war eine feine kleine Tour. Ich hoffe, die nächste Erzgebirgstour wird länger und insgesamt auch besser besucht. Vielleicht komme ich wieder, wenn der Film zu Mädchenmeute fertig ist. 

Arzgebirg, wie bist du schie, aber ich fahre auch gern wieder nach Berlin, denn: